Russland

"Werden hier alles vernichten" – Was die Bewohner des befreiten Awdejewka erlebten

Nach monatelangen Kämpfen liegt Awdejewka in Trümmern. Doch erstaunlicherweise leben hier weiterhin Menschen – etwa 630 sind es. Sie haben fast alles verloren – ihre Angehörigen, ihre Wohnungen oder Häuser, ihre Dokumente – und wollen trotzdem nicht wegziehen. RIA Nowosti berichtet, wie sie jetzt leben und wer ihnen hilft.
"Werden hier alles vernichten" – Was die Bewohner des befreiten Awdejewka erlebtenQuelle: Sputnik © Stanislaw Krassilnikow

Von Andrei Igorew

Die Bomben haben "entschieden"

Die Straße von Jassinowataja nach Awdejewka ist völlig zerstört – Asphaltbrocken, Gräben, eine durch Explosionen zerlöcherte Fahrbahn – eine typische Straße nahe der Front. Am Straßenrand stehen die Wracks von ausgebrannten Pkws, von Splittern durchsiebte Verkehrszeichen, Warnschilder mit der Aufschrift "Minen". Verfallene ukrainische Schützengräben wurden teils schon mit Abfall zugeschüttet.

Bei Awdejewka werden der Pickup und der GAZelle-Kleintransporter der Helfer von der "Russischen humanitären Mission" (RHM) angehalten. Die Eskorte der Militärpolizei empfiehlt den Insassen eindringlich, Jacken über die blauen Schutzwesten zu ziehen. Hier ist es nicht sicher, gegnerische "Vögelchen", also Drohnen, patrouillieren rund um die Uhr.

Erst gestern soll eine Kamikazedrohne eine Gruppe von Militärs getroffen haben – zwei wurden verwundet, einer getötet. Doch humanitäre Helfer sind für das ukrainische Militär ein noch begehrteres Ziel. Und eine zivile Schutzweste ist von ihren Drohnen aus gut zu erkennen, deswegen sollte man sich davor besser absichern.

Die Fahrt in die Stadt führt durch das berühmte Industriegebiet, das in den Jahren 2014/2015 erbittert umkämpft wurde. Nach dem Beginn der Awdejewka-Operation im Oktober 2023 wurde es von Russlands Luftstreitkräften in ein Trümmerfeld aus verbogenen Armierungseisen und zerborstenem Stahlbeton verwandelt. Wir werden auf eine Eisenbahnschiene aufmerksam, die durch offenbar unvorstellbare Kräfte zu einer Spirale verdreht und über einen hohen Zaun geschleudert wurde. Das ist das Ergebnis eines direkten Treffers einer schweren Spreng- oder einer Aerosolbombe.

Das Militär bestätigt: diese Bomben haben sehr geholfen. Diese Waffen konnten die ukrainische Verteidigung aufbrechen, die hier seit zehn Jahren errichtet wurde. Eine Kette mächtiger Befestigungsanlagen war nach allen Regeln des Festungsbaus angelegt worden: Betonbunker, verbunden durch Kommunikationsgräben, Geschützstellungen, voll ausgebaute Schützengräben und Luftschutzbunker. Doch die Luftunterstützung hat es "entschieden", wie man an der Front sagt.

Dank unter vorgehaltenen Waffen

Inmitten all dessen leben Menschen. In den fünfstöckigen Wohnblöcken in der Gagarin-Straße sind alle Fensterscheiben zerbrochen, die Fensteröffnungen sind zwecks Wärmedämmung mit Teppichen verhangen. Viele Balkone sind durch Explosionen in der Nähe zerstört, an manchen Stellen sind die Eingänge oder ganze Einfahrten eingestürzt.

Die Straße ist jetzt geräumt, irgendwo in der Nähe tuckert ein Benzingenerator. Sobald die freiwilligen Helfer anhalten, strömen Einheimische zum GAZelle-Transporter.

Die Helfer verteilen Lebensmittelpakete – je eines pro dreiköpfige Familie. Die Kartons enthalten Müsli, Nudeln, Kondensmilch, Pflanzenöl, Fleisch- und Fischkonserven, Wasch- und Körperpflegemittel. Außerdem ein Membranfilter zur Reinigung selbst des dreckigsten Wassers. Mitarbeiter der RHM arbeiten zügig, um sich nicht zu lange an einer Stelle aufzuhalten und die allgegenwärtige ukrainische Luftaufklärung nicht zu "ermuntern".

"Die Ukrainer brachten uns auch humanitäre Hilfe, aber sie war bei weitem nicht so gut", berichtet die Anwohnerin Raissa. "Sie haben polnisches Dosenfutter verteilt, vor dem sogar die Hunde die Nase rümpften. Doch wir haben uns immer gut benommen. Ihre Soldaten benahmen sich dreist, drängelten sich vor, als Geschäfte noch geöffnet waren, konnten einen anpöbeln oder beschimpfen. Es gab auch normale Menschen, doch es war nie klar, auf wen du triffst. Deswegen versuchten wir, ihnen aus dem Weg zu gehen."

Kiew machte jedes Mal aus der Verteilung von Hilfsgütern eine Show. Journalisten kamen und forderten die Einheimischen auf, sich vor laufender Kamera bei den Behörden zu bedanken. Und daneben standen im Hintergrund bewaffnete Soldaten und hörten aufmerksam zu, damit auf keinen Fall die "Separatisten", die die Stadt nicht verlassen wollten, mit etwas Unpassendem herausplatzen wollten. Dann zögerten sie nicht, den Einheimischen ins Gesicht zu sagen, was sie eigentlich über sie dachten. "Sie sagten es unumwunden: 'Wenn wir von hier verschwinden, werden wir alles vernichten'", erinnert sich die Bewohnerin Jelena. "Die letzten Monate waren hier die 'totale Härte', wie es die Jungen sagen würden. Panzer fuhren herum und schossen wahllos: auf Häuser, auf Autos – je mehr Zerstörungen, desto besser war es für sie."

Die Gräber der Söhne

An der Molodjoshnaja-Straße am Stadtrand ist Geknatter zu hören – Soldaten haben eine tieffliegende Drohne bemerkt und versuchen sie abzuschießen. Einmal pro Minute wird die Luft von ohrenbetäubenden Explosionen erschüttert – russische Artillerie ist in der Nähe im Einsatz. Wir zucken jedes Mal zusammen und ducken uns reflexartig, doch die Einheimischen blinzeln nicht einmal. Sie erklären: Nach zwei Jahren hat man sich an alles gewöhnt, selbst an das Schrecklichste.

"Aber dabei darf man sich gar nicht daran gewöhnen", wendet Andrei ein, der vor dem Krieg als Schweißer in der Kokerei von Awdejewka arbeitete. "Als wir befreit wurden, haben wir uns alle irgendwie ganz schnell entspannt. Wir gehen spazieren, atmen die frische Luft. Als wir neulich eine Straße aufräumten, schlug eine Rakete in der Nähe ein. Alle warfen sich zu Boden, nur ich blieb stehen. Erst drei Minuten später begriff ich, dass ich hätte sterben können und Angstschweiß überkam mich. Nein, wir dürfen uns nicht entspannen. Den Mistkerlen auf der anderen Seite ist alles zuzutrauen. Erst wenn sie weiter weg vertrieben sind, können wir mit dem Wiederaufbau der Stadt beginnen."

Manche zogen in einigermaßen intakte Wohnungen, doch der Großteil lebt immer noch in Kellern. Einer dieser Schutzräume liegt im Keller eines Plattenbaus (die in der Sowjetunion auch Chruschtschowka genannt wurden) in der Molodjoshnaja-Straße. Hier drängen sich fünfzehn Menschen zusammen.

Innen ist es so gemütlich, wie es unter solchen Bedingungen bestenfalls möglich ist. Es gibt Strom von einem Generator, in der Küche stehen Kanister mit Trinkwasser. In der Ecke gibt es einen Medikamentenschrank, daneben eine kleine Bibliothek. Im Schlafraum stehen Doppelstockbetten. Es gibt sogar mehrere Waschmaschinen und zwei Duschen, die aber ohne die zentrale Wasserversorgung wenig nützen.

"Wir leben einträchtig – Jung und Alt – zusammen", sagt die Rentnerin Jekaterina Iwanowna. "Es mangelt an nichts – Lebensmittel, Wasser, Medikamente. Aber ich möchte immer noch meine eigene Ecke. Meine Wohnung ist völlig zerstört. Ich möchte, dass die Stadt wieder aufgebaut wird. Aus diesem Keller kann ich nirgendwohin. Ich bin ganz allein geblieben. Mein ältester Sohn ist umgekommen, der jüngste an einer Lungenentzündung gestorben. Ich lebe mit der Hoffnung, eines Tages zum Friedhof zu gehen, meine Söhne zu besuchen und ihre Gräber in Ordnung zu bringen. Jetzt gibt es keine Chance, dorthin zu kommen. Und dieser Friedhof ist wahrscheinlich verwüstet."

Kriegskinder

Die nächste Station der Helfer ist ein Viertel mit Einfamilienhäusern. Dorthin bringen sie Kartons mit Plüschtieren, Malbüchern, Knete – und Puppen für die dreijährige Kira.

Ihre Mutter Alexandra bittet darum, das Mädchen nicht zu filmen. Denn vor der Ankunft der russischen Truppen wurden von unbekannten "Aktivisten" Kinder gewaltsam "evakuiert". Den verzweifelten Eltern sagte man nicht, was mit den Kleinen passieren wird, deswegen versteckten viele ihre Kinder.

"Unsere Kirjuscha kam hier zwei Jahre lang nicht aus dem Haus. Am meisten hatte ich Angst, dass man sie auf der Straße weinen hören würde", räumt ihre Mutter ein. "Sicher war hier es gefährlich. Doch das eigene Kind Gott weiß wem zu geben ... das hätte ich niemals zugelassen. Erst als die russischen Soldaten kamen, ging ich mit ihr wieder auf die Straße. Sie begann wieder zu lächeln und wollte zu ihnen auf den Schoß. Diese zwei Jahre waren schwer für uns, so etwas wünschst du nicht einmal deinem Feind. Als ich klein war, waren Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges zu uns in die Schule eingeladen. Sie erzählten von all diesen Schrecken und wir lauschten mit stockendem Atem. Und nun erlebten wir das alles selbst."

Kira geht auf die Veranda und erblickt mit großen Augen den Berg aus Spielzeug. Ohne ein Wort zu sagen, rennt sie los, schnappt sich das Puzzle "Mascha und der Bär" und drückt es fest an sich. Diese Trickfilmserie liebt sie über alles, erklärt ihre Mutter. Kira versuche, Mascha in allem nachzuahmen und sei genauso unbändig. Nach einer kurzen Begutachtung der restlichen Geschenke schüttelt das Mädchen mit ernster Miene den Helfern und den Soldaten die Hand.

In der nächsten Straße wohnt der 13-jährige Artjom. Die Freiwilligen brachten ihm einen Basketball und ein Schachspiel mit. Solange es Strom gab, habe er gerne am Computer gespielt, sagt er. Jetzt würde er vor Langeweile sterben und nicht wissen, was er mit sich anfangen soll. Er hat nun vor, im Garten einen Basketballkorb aufzustellen, um damit zu üben.

Kriegskinder unterscheiden sich sehr von ihren Altersgenossen "auf dem Festland" des Friedens. Sie freuen sich rührend über einfache Spielzeuge, reagieren in keiner Weise auf den nahen Artilleriedonner und knüpfen leicht Kontakte zu unbekannten Erwachsenen, vor denen eine wichtige Aufgabe steht: den friedlichen Himmel über ihren Köpfen wiederherzustellen.

"Wir haben den Wiederaufbau beschlossen"

Nach Angaben des Oberhaupts des für Awdejewka zuständigen Kreises Jassinowataja Dmitri Schewtschenko leben in Awdejewka derzeit etwa 630 Zivilisten. In der Stadt gibt es drei medizinische Versorgungspunkte und einen mobilen Lebensmittelladen, in dem man sowohl mit Bargeld als auch mit einer Karte bezahlen kann.

Alle, die es wünschten, wurden in zwei provisorischen Sammelpunkten in Jassinowataja untergebracht. Dort werden sie mit Dokumenten ausgestattet, mit drei Mahlzeiten pro Tag und allem Notwendigen versorgt.

"Praktisch 100 Prozent der Mehrfamilienhäuser wurden zerstört", sagt Schewtschenko. "Es gibt etwa 250 solcher Gebäude, außerdem etwa 6.000 Einfamilienhäuser. Die Sozialeinrichtungen sind bis auf wenige Ausnahmen ebenfalls zerstört. Zum Glück wurde beschlossen, die Stadt wieder aufzubauen. Eine Baubrigade bereitet die Planungsunterlagen vor. Es wurden bereits 19 Wohnblöcke, zwei Kindergärten und das städtische Verwaltungsgebäude, das weniger stark beschädigt wurde, begutachtet. Internet und Mobilfunk gibt es noch nicht, die ganze Elektroenergieversorgung stammt von 50 Generatoren. Wenn die notwendige Sicherheit wieder gewährleistet ist, sind wir bereit, mit dem Bau zu beginnen."

Das Oberhaupt des Kreises fügt an, dass jetzt vor allem Baumaterial benötigt wird. Vom Gebiet Tscheljabinsk, das den Wiederaufbau betreuen wird, wurde auch das Material zugesagt. Lebensmittel, Medikamente und Kleidung für die Einheimischen gebe es zum Glück genug.

Übersetzt aus dem Russischen und zuerst bei RIA Nowosti erschienen am 11. April 2024.

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